Darum geht es …
Die Band „maybebop“ besingt aus fiktiver türkischer Perspektive das deutsche Weihnachtsfest. Jede Menge Irritation …
Zu den Hintergründen
… und Anpassung. Zugleich löst der Song ein Nachdenken über den eigenen Umgang mit christlichen Traditionen, Ritualen oder Sinnstiftungen aus. Wem gehört Weihnachten? Den Kirchen? Dem Konsum? Dem Internethandel? Der Familie?
Vor Jahren habe ich dazu diesen Artikel verfasst. Dort heißt es:
Hör von nebenan Frau Meyer
Sagt: Is gegen Tradition
Isch kein Recht auf diese Feier
Is verboten, weil isch hab dafür die falsche Religion
Wie nehmen muslimische Familien die Advents- und Weihnachtszeit wahr? Wird auch gefeiert? Und wenn Ja, was? Und wenn Nein, wir geht man mit den Veränderungen im Alltag für diese Zeit um? Ich könnte mir vorstellen, dass Erwachsene das auch anders sehen als Kinderaugen.
Wird im muslimischen Religionsunterricht zu Weihnachten über Jesus und Maria gesprochen? Oder eher in anderen Zusammenhängen?
Danke für die Antworten,
herzlich,
Andreas Ziemer
Gott gab Jesus „das Evangelium. Darin ist Rechtleitung und Licht, und es bestätigt, was vor ihm von der Tora bestand.“ (Koran, Sure 5, Vers 46)
Herzlichen Dank für den auch theologisch interessanten Beitrag. Die Unterrichtseinheit zu Weihnachten und dem Lied „Gummibaum“ finde ich sehr gelungen und spannend – zumal ich auch gerne mit YouTube-Formaten arbeite…
Bevor ich konkret auf die benannten Fragen eingehe, möchte ich noch etwas zum Hintergrund sagen.
Hintergrund:
Jesus ist tatsächlich nicht nur „irgend so’n Prophet“ im Islam – wie es im Lied heißt. Auch wenn es vielen Muslimen nicht bewusst ist, hat Prophet Jesus im Koran einen hohen Stellenwert. In der religiösen Alphabetisierung sind sich Frau und Herr Mayer einerseits und andererseits Frau und Herr Omar wohl ähnlich.
Die Tora gilt als von Gott herabgesandte Schrift, „in welcher Rechtleitung ist und Licht“. Laut Koran richteten sich nach ihr „die Propheten […], die Rabbiner [al-rabbānūn] und die Schriftgelehrten nach dem, was ihnen von Gottes Buch zum Bewahren anvertraut wurde“ (5:44). Auf „ihren Spuren“ ließ Gott „Jesus folgen, Marias Sohn; er bestätigte, was vor ihm von der Tora bestand.“ Gott gab ihm „das Evangelium. Darin ist Rechtleitung und Licht, und es bestätigt, was vor ihm von der Tora bestand“ (5:46).
In Vers 48 heißt es dann, dass Muḥammad das „Buch mit der Wahrheit“ (al-kitāb bi al-ḥaqqi) erhielt, das bestätigt, was vorher war und nunmehr Gewissheit bringen soll. „Für einen jeden von euch haben wir Bahn und Weg gemacht. Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht – doch wollte er euch mit dem prüfen, was er euch gab. Wetteifert darum um das Gute! Euer aller Rückkehr ist zu Gott, er wird euch dann kundtun, worin ihr immer wieder uneins wart.“ (5:48).
Übrigens heißt Sure 5 auf Arabisch „al-Ma’ida“: der „Tisch“ (manchmal auch mit „Mahl“ übersetzt). Der Titel steht in Bezug zum Abendmahl.
In Sure 3 wird in den Versen 45–47 berichtet, wie Maria (Maryam) die Geburt Jesu von Engeln prophezeit wird. Nachdem Maria zweifelt und hadert, ist die Antwort, dass Gott „erschafft, was er will“. Wenn „er eine Sache“ beschließt, „so spricht er nur zu ihr: ‚Sei!‘ Und dann ist sie.“
كُن فَيَكُونُ (kun fayakūn)
Im Ausdruck kun fayakūn (‚Sei!‘ Und dann ist sie.) findet sich die Frage nach dem Ursprung des Menschseins, in der gleichzeitig die unlösbare Rätselhaftigkeit des Menschseins ihren Niederschlag findet. Es erinnert an die kindliche Frage, die auch im Unterricht gestellt wird: Wenn Gott den Menschen erschaffen hat, wer hat dann Gott erschaffen?
Im darauffolgenden Vers 3:48 wird Jesus als zukünftiger Empfänger göttlicher Botschaft bezeichnet: „Lehren wird er [=Gott] ihn das Buch, die Weisheit, die Tora und das Evangelium.“ Seine Heil- und Wunderkräfte werden angekündigt (3:49). Die dann folgenden Verse fordern zur Gefolgschaft Jesu auf (3:50; 51) und behandeln die Problematik aufrichtiger und unaufrichtiger Gefolgschaft (3:52–54). Danach wird angekündigt, dass Jesus zu Gott erhöht werden wird (3:55). Es folgen der Hinweis auf das Jenseits (3:56) und die Wichtigkeit der eigenen Handlung bzw. guten Tat (3:57). Nach dem Satz mit der „weisen Erinnerung“ (3:58) schließt der Abschnitt über Jesus mit den folgenden Worten ab:
„Siehe, vor Gott gleicht Jesus Adam. Aus Staub erschuf er ihn, dann sagte er zu ihm: ‚Sei!‘ Und dann ist er.“ (3,59) كُن فَيَكُونُ (kun fayakūn)
Wenn Jesus gemäß neutestamentarischen und koranischen Erzählungen befähigt war, Wunder zu bewirken und selbst Tote und Totes ins Leben berufen konnte, so wird dies durch den geistigen Zustand begründet, dessen Grundlage die geschöpfliche Bindung zum Schöpfer ist. So wie die Erzählung über das Wirken Jesu und über die weise Erinnerung jeweils am Anfang und am Ende durch die Worte kun fayakūn eingebettet werden, ist auch die Existenz eines jeden Lebewesen in den Imperativ Gottes eingebunden: in den Schöpfungsakt der Geburt und in den Schöpfungsakt des Todes. Auch der Tod tritt als Schöpfungsakt in Erscheinung, da aus Sicht der Religion der Körper stirbt, die Seele aber für die Ewigkeit neu erschaffen wird.
Aus muslimisch-theologischer Sicht war es die vollkommene Demut und Hingabe Jesu, die ihn für Wunderhandlungen prädestinierten. Nach religiöser Vorstellung war Jesus zu Unglaublichem befähigt. Doch tat er dies eben nicht, um sich selbst zu lobpreisen, vielmehr machte er sich zum Diener aller Menschen.
Somit kann er Zeichen für den Menschen sein, damit jede und jeder im Erkennen des eigenen Messianischen die Verbundenheit im Netz des Sozialen und Kommunikativen erfährt.
„Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt besitzt, dabei aber sein eigenes Leben einbüßt?“ (Lukas 9, Vers 25).
Die Demut ist die Rückbindung an den Schöpfer. Dies drückt sich im arabischen Begriff taqwā aus. Taqwā bezeichnet die „Ehrfurcht vor Gott“ oder die Bindung an Allah, die den Menschen zu rücksichtsvollem Handeln gegenüber Mitmenschen und Umwelt anhält.
In Sure „Maryam/Maria“ (Sure 19) finden wir die koranische Beschreibung der Geburt Jesu (19:16–33). Dabei spielen Engel Gabriel (Engel der Offenbarung), eine Dattelpalme, ein Bach und das Sprechen des Säuglings eine große Rolle! Keine Rolle spielt hingegen ein Mann (Vers 17).
In Vers 19:28 wird Maria als „Schwester Aarons“ (ukhta Haruna) bezeichnet. Damit ist nicht eine leibliche Verwandtschaft gemeint. Aaron gilt als Repräsentant des Priesteramtes. Als „Schwester Aarons“ wird die Anerkennung des Priesteramtes für Maria zum Ausdruck gebracht. (Vgl. Ayfer Dagdemir, „Islamische feministische Theologie“ oder: wie weiblich denkt der Koran?, in: Lebendige Seelsorge 4/2019, http://www.lebendige-seelsorge.de).
Tatsächlich spielen Maria und Jesus auch im IRU (Islamischen Religionsunterricht) eine wichtige Rolle:
Behr, Hamida Sarah, Mit Maria und Jesus in den Islamischen Religionsunterricht – Theologische und pädagogische Erörterung, Quellen und Material, in: Fahimah Ulfat / Ali Ghandour (Hg.), Islamische Bildungsarbeit in der Schule. Theologische und didaktische Überlegungen zum Umgang mit ausgewählten Themen im Islamischen Religionsunterricht, Wiesbaden 2020, S. 167–188.
In Sure 4:171 wird Jesus sogar als „ruḥ Allah“ (Geist Gottes) bezeichnet. Dieser Titel ist im Koran nur Jesus vorbehalten: „Leute der Schrift, übertreibt nicht in eurer religiösen Glaubensvorstellung. Der Messias Jesus, Sohn der Maria, war nur Gottes Gesandter – die Erfüllung Seines (Gottes) Versprechen, das er Maria übermittelt hatte – und eine von Ihm erschaffene Seele (Geist von ihm, ruhAllah). Darum glaubt an Gott und seine Gesandten und sagt nicht „Drei“. Hört auf damit, das ist besser für euch. Gott ist nur ein einziger Gott.“
In diesem Vers ist aber auch eine deutliche Abgrenzung zum christologischen Verständnis bemerkbar. Der vermeintliche Dissens liegt in zwei Dingen:
1) Zweinaturenlehre Jesu
2) Kreuzigung
Zu 1) In oben zitiertem Koranvers 4:171, aber auch an anderen Stellen, finden sich Äußerungen, nach denen Prophet Jesus nicht überhöht werden soll. Dabei ist zu beachten, dass damit nicht heutige Trinitätsvorstellungen gemeint waren, sondern Streitigkeiten um die Zweinaturenlehre (wahrer Mensch und wahrer Gott, unvermischt und unveränderlich), wie sie trotz oder auch wegen des Konzils von Chalcedon weiterhin vorhanden waren. Diese Diskussionen fanden offensichtlich auch zur Zeit des Propheten Muhammad in Medina noch statt.
Zu 2) Der Koran betont in Vers 4:158, dass Jesus lebt und bei Gott gerettet ist, weil Gott ihn zu sich erhoben hat. Der Kreuzestod wird im Koran nicht negiert. Vielmehr wird der Tod Jesu nicht den Juden zugeschrieben, sondern als Gottes Wille – als Errettung durch Gott – erläutert. Die Substitutionstheorie, wonach anstatt Jesu eine andere Person getötet wurde, lässt sich nicht deutlich aus dem koranischen Wortlaut ableiten und ist umstritten. Allerdings dennoch häufig unter muslimischen Schülern*innen anzutreffen.
Mouhanad Khorchide, Klaus von Stosch, Der andere Prophet, Jesus im Koran. Kapitel 6.3. Zur soteriologischen Relevanz des Korans, Freiburg/Br. 2018
Mouhanad Khorchide, Klaus von Stosch, Der andere Prophet, Jesus im Koran. Kapitel 4.2.5. Kreuzestod Jesu?, Freiburg/Br. 2018, S. 147–156.
Zu den konkreten Fragen:
Wie nehmen muslimische Familien Weihnachten wahr und wird auch gefeiert? Was wird wie gefeiert?
Aus theologisch-formaler Sicht gibt es im Islam zwei hohe Feste: das dreitägige Ramadanfest am Ende des Fastenmonats und das viertägige Opferfest zur Erinnerung an Prophet Abraham am Ende des jährlichen Hadsch-Ritus.
Darüber hinaus gibt es noch einige Gedenktage: z.B. der Geburtstag des Propheten Muhammad oder der 10. Muharram, der unter anderem an den Exodus des Propheten Moses erinnern soll. Diese Gedenktage werden unterschiedlich begangen, aber bei weitem nicht so gefeiert wie das Ramadanfest oder das Opferfest.
In diesem Sinne wird zur Geburt von Jesus nicht explizit gedacht oder ein Fest veranstaltet. Aber Weihnachten mit all seiner Intensität hat genug Strahlkraft, so dass auch viele Muslime das Fest „begehen“.
Man kennt sicherlich auch die Bilder von Weihnachtsbäumen aus muslimisch geprägten Ländern; sei es Dubai oder auch im multireligiösen Libanon. Als ich vor einigen Jahren zur Winterzeit in Indonesien war, gab es in einer der großen Shopping-Malls Jakartas viele Weihnachtsbäume aus Plastik mit bunten Lichtern und falschem Schnee zu kaufen. Aus dem türkischen Kontext kenne ich TV-Shows zu Sylvester, in denen oftmals auch Tannenbaum und Weihnachtsmann zur Dekoration gehören.
Vor Jahren erzählte mir ein syrisch-stämmiger Lehrer der saudi-arabischen Fahad-Akademie in Bonn Bad Godesberg, der selbst dort Religionslehrer war, dass er wegen seines Sohnes auch einen Weihnachtsbaum gekauft habe.
Es gibt sicherlich etliche muslimische Familien, die Zuhause Weihnachtsschmuck und Weihnachtsbaum haben und sich gegenseitig beschenken. Ebenso gibt es Familien die Weihnachten für sich selbst eher ablehnen und an diesen Tagen dezidiert anderen Tätigkeiten nachgehen. Dass es aber eine „Zeit der Besinnung“ und eine Zeit für die Familie ist, daran gibt es keinen Zweifel.
An unserer Schule findet vor den Weihnachtsferien immer ein Gottesdienst in der benachbarten Kirche statt, zu der auch andersgläubige Schüler*innen eingeladen sind. Es nehmen immer auch etliche muslimische Schüler*innen daran teil. Manchmal steuert auch eine Lerngruppe aus dem IRU etwas bei. Vor zwei Jahren hatte eine meiner Lerngruppen aus dem Jg. 7 etwas unter dem Motto „Hört auf Maria!“ vorgespielt!
Ich persönlich nehme auch gerne an christlichen Gottesdiensten teil. Für mich ist die Grenze diesbezüglich recht weit: das Abendmahl würde ich als Zeichen des Bekenntnisses auch mit Rücksicht auf christliche Gläubige nicht einnehmen.
Hallo Bernd, ich danke Dir für Deine ausführlichen Überlegungen und Hinweise. Mich erinnert Deine Beschreibung an die Vielfalt der religiösen Praxis in den unterschiedlichen christlichen Konfessionen. Hinzu kommen die unüberschaubaren kulturellen Deutungen von Weihnachten.
Vor einigen Jahren sprach ich in Magdeburg mit einem freundlichen Ethikkollegen über die Lichterwelten der Stadt und drückte meine Verwunderung darüber aus mit der Frage, wem Weihnachten eigentlich gehöre, den Kirchen oder dem Konsum? Ich wurde dann freundlich von ihm darauf hingewiesen, dass Weihnachten ja viel älter sei als das Christentum in Europa und die Kirchen dieses Fest ja eigentlich okkupiert hätte …
Ich ziehe mehrere Schlüsse:
1.) Es wäre gut, wenn im Religionsunterricht die religiöse, weltanschauliche und kulturelle Vielfalt der Lerngruppen zu ausgewählten Festen sichtbar würde, 2.) die Schnittmengen herausgearbeitet werden könnten und 3.) träfe das dann auch für Feste zu, die ich heute vermutlich noch gar nicht im Blick habe.
Und 4.) beschleicht mich der Gedanke, dass ich Weihnachten bisher sehr gefiltert wahrgenommen habe. Was nicht schlecht war, aber sicher so nicht bleiben muss.
Dann würde noch einmal deutlicher werden, vielleicht besonders hier für uns im Osten, welchen wichtigen Beitrag die Religionen in ihrer Vielfalt für das Gemeinwohl und den Frieden leisten.
Noch einmal herzlichen Dank für Deinen Beitrag und eine gute Woche,
Andreas
Hallo Andreas,
da hast Du Recht.
Wobei ich finde, dass Weihnachten und Jesus im Christentum schon etwas Besonderes sind, das ja auch Nichtchristen anspricht, aber eben nicht vereinnahmt werden sollte. Das ist ja auch deine Konsumkritik. Der Kern von Weihnachten ist und wird christlich bleiben. Es muss aber immer wieder neu an die christliche Kernbotschaft des Festes erinnert werden. Ich verstehe auch, dass Christen eine Vereinnahmung des Propheten Jesu durch Muslime kritisch sehen können. Tatsächlich ist ja auch ein Unterschied. Andererseits besteht aber eine Möglichkeit sich auszutauschen und näher zu kommen.
Liebe Grüße
Bernd Ridwan
Vielen Dank, Bernd, für deine ausführlichen Betrachtungen — zu der Rolle Jesus im Koran und im Islam und zu deinen persönlichen Beobachtungen, was das Weihnachtsfest den Muslimen bedeuten kann. — Ich habe sie mit Gewinn gelesen!
Viele Grüße aus Aschersleben
Lars Bremer