Darum geht es …
In meiner Lerngruppe besteht die Vorstellung, dass es für Muslime sehr schwer ist.
Zu den Hintergründen
Ich denke, dass es natürlich von den konkreten Familien abhängig ist. Welche Bezüge zum Koran oder zu Hadithen gibt es? Was hat das für Konsequenzen in einer muslimischen Gesellschaft?
Sylvia Hügel
Hintergrund:
Der Koran selbst äußert sich nicht zum Thema Homosexualität und auch in den beiden Hauptwerken der Hadithliteratur, bei al-Buchari (Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Buḫārī, 810 – 870) und Muslim (Muslim ibn al-Ḥaǧǧāǧ an-Naysābūrī, 817 oder 821 — 875), finden sich keine Aussagen. Erst die späteren Rechtskompendien nehmen zum Thema Homosexualität Stellung.
Einen Überblick darüber, wie islamische Quellen interpretiert werden, geben vor allem die Publikationen von Amin K. Waltter , Andreas Ismail Mohr oder Muhammad Sameer Murtaza . Arno Schmidt und Gianni De Martino befassen sich im historischen Rückblick mit dem Thema. Ebenso thematisieren und analysieren Thomas Bauer und Ali Ghandour die Thematik Lust und Sexualität im Islam.
Vgl. Thomas Bauer, https://www.zdf.de/verbraucher/volle-kanne/prof-dr-thomas-bauer-100.html
(zuletzt: 22.07.2020).
Amin K. Waltter, Islam und Homosexualität im Qurۥān und der Ḥadīṯ-Literatur, Hamburg 2014.
Mohr, Andreas Ismail: Das Volk Lots und die Jünglinge des Paradieses. Zur Homosexualität in der Religion des Islam. In: Michael Bochow / Rainer Marbach (Hrsg.): Homosexualität und Islam. Koran – Islamische Länder – Situation in Deutschland. Hamburg 2003, S. 51–84.
Muhammad Sameer Murtaza, Islam und Homosexualität – ein schwieriges Verhältnis, Hamburg 2017.
Arno Schmitt, Gianni De Martino: Kleine Schriften zu zwischenmännlicher Sexualität und Erotik in der muslimischen Gesellschaft. Berlin 1985.
Thomas Bauer, Die Ambiguität der Lust. In: Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, S268-311.
Ali Ghandour, Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime. München 2019.
Oftmals wurde und wird in diesem Zusammenhang auf die Geschichte von Lot (arab. Lūt) verwiesen, die an mehreren Stellen im Koran vorkommt; sozusagen aus der mündlichen Überlieferung mit Bezug zur Thora „zitiert“ wird: zum Beispiel Sure 26, Vers 165. Es werden hierbei die Zustände von Sodom und Gomorrha und die Situation des Propheten Lot beschrieben. In besagtem Vers und weiteren Versen im „Lot-Kontext“ wird vermeintlich kritisiert, dass sich zu dieser Zeit Männer anderen Männer sexuell nähern:
Müsst ihr von allen Leuten euch (lüstern) Männern nähern und euch von all den Ehepartnern fernhalten… (26:165,166).
In späteren theologischen Schriften der Methodenschulen („Rechtsschulen“) des Mittelalters wird anhand dieses Verses nicht Homosexualität im heutigen Sinne sondern konkret der sexuelle Akt des Analverkehrs verdammt. Diese sexuelle Annäherung ist aber auch für heterosexuelle Ehepartner in diesen Schriften gleichermaßen verboten. Tatsächlich werden in diesen Schriften drastische Strafen, die zum Tod führen, für diese Handlung aufgezählt. Dabei ist allerdings zu beachten, dass diese Strafen nicht zur Anwendung kamen (vgl. Bauer 2011 oder Mathias Rohe 2009). In Zeiten mittelalterlicher Gesellschaften waren sie sozusagen plakativer Ausdruck für ein vermeintlich schlimmes Vergehen, damit möglichst gewisse Regeln eingehalten werden.
Thomas Bauer schreibt dazu: „Es gilt in der islamischen Pflichtenlehre zwar als Sünde, geschlechtlichen Verkehr mit anderen Männern zu haben, es ist aber nicht verboten, sich in andere Männer zu verlieben. Deshalb konnten auch Männer, die als gesetzestreue Muslime gelten wollten (und die oft zweifellos zu Recht als solche gelten), Gedichte auf hübsche Jünglinge verfassen. Heute erscheint es vielen Muslimen als schwer erträglich, daß etwa der größte Hadithgelehrte der nachformativen Epoche, Ibn Ḥadjar al-͑Asqalānī, homoerotische Verse gedichtet hat. Ibn Ḥadjar selbst hätte eine solche Ablehnung seiner Liebesverse aber überhaupt nicht verstanden. Ihm erschien es – wie generell im vorkolonialen Nahen Osten – als selbstverständlich, daß schöne junge Männer begehrenswert sind und daß ein Mann sich ebenso in junge Männer wie in junge Frauen verlieben kann. Ibn Ḥadjar erschien es deshalb als gute Idee, einem Gedicht, das – ungewöhnlich genug – ein inniges Liebesgedicht auf seine ihm rechtmäßig angetraute Ehefrau ist, als Einleitung einige homoerotische Verse voranzustellen. Dies wiederum ist für den modernen Betrachter, der durch das Feuer des westlichen Disambiguierungswahns gegangen ist, einigermaßen befremdlich, weil sich Ibn Ḥadjar nicht in die Hetero-Homo-Binarität fügen will. Und was für Ibn Ḥadjar gilt, trifft mehr oder weniger auf alle Männer des vorkolonialen Nahen Ostens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu, von denen uns entsprechende Zeugnisse erhalten sind. Der zentrale nahöstliche Diskurs über die Liebe läßt sich nur dann verstehen, wenn man den universellen Anspruch des westlichen Diskurses aufgibt.“
Ähnliches wie über Ibn Ḥadjar ist von weiteren Autoren wie z.B. Rumi (Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī) oder al-Ghazali (Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī) gleichermaßen überliefert.
Die Homophobie unter manchen Menschen muslimischen Glaubens erklärt Bauer in der Auseinandersetzung mit der „westlichen Moderne“; mit Ablehnungsmechanismen aber auch Adaptionen; (vgl. Bauer 2011) – ähnlich zur Entstehung von Islamismus.
Andere Autoren beziehen den „Lot-Kontext“ nicht auf Homosexualität (wie manche heutige „Theologen“) oder „Sodomie“ (im Sinne eines Analverkehrs – wie die Gelehrten aus dem Mittelalter) sondern auf starke (sexuelle) Verfehlungen wie Vergewaltigung, Inzucht und Missbrauch des Gastrechtes.
Einen guten Überblick gibt hierzu Andreas Ismail Mohr:
https://www.ndr.de/kultur/sendungen/freitagsforum/Muslime-der-Islam-und-die-Homosexualitaet,freitagsforum772.html
Und etwas ausführlicher: http://www.ismailmohr.de/islam_homo.html
Als Paper in Tabellenform:
https://www.gleichgeschlechtliche-lebensweisen.hessen.de/global/2011_06_17_Mohr_Ismail_Andreas_Sexualitaet_Islam_Handout-pdf.pdf;%20filename_=utf‑8′‚2011_06_17_Mohr_Ismail_?id=aaaaaaaaaaaacpf
Eine weitere Publikation zu diesem Thema:
https://media.hugendubel.de/shop/coverscans/146PDF/14647167_lprob_1.pdf
Ich selbst hatte bei einem Fastenbrechen des Liberal-Islamischen Bundes in Köln teilgenommen; inklusive Gebet, an dem auch LGTBQ*-Personen teilnahmen.
LIB: https://lib-ev.jimdo.com
Hier noch ein Bericht über einen schwulen Imam (eventuell im Unterricht einsetzbar):
https://de.qantara.de/inhalt/erster-homosexueller-imam-deutschlands-nur-eine-moschee-fehlt-ihm-noch?page=0%2C2
Tatsächlich gibt es in verschiedenen Ländern auch unterschiedliche kulturelle Traditionen zu beobachten. In den Publikationen Annemarie Schimmels über Pakistan und Sufismus finden sich Hinweise, dass es bereits in der Vergangenheit in Pakistan Transgender-Personen gab, die einen besonderen aber durchaus geehrten Status hatten. Heute hat Pakistan ein eigenes Gesetz zum Schutz von Transgender-Menschen und erkennt Transgender als eigenes Geschlecht an. Allerdings gibt es dennoch Diskriminierungen gegen diese Personengruppe.
https://de.qantara.de/inhalt/transgender-in-pakistan-menschenrechte-einer-minderheit
1996 war ich in Bursa (Westtürkei, viertgrößte Stadt der Türkei, ehemals Hauptstadt der Osmanen). Damals starb Zeki Müren. Er war als Mann geboren, männlicher Schauspieler und entwickelte sich während seiner Karriere zu einer Frau. Sie wurde eine der berühmtesten und angesehensten Sängerinnen der Türkei. Zeki Müren wurde an diesem Tag in Bursa die letzte Ehre erwiesen. Tausende Menschen waren auf der Straße. Vor der alten und großen Ulu-Moschee in Bursa wurde der Leichnam aufgebahrt und das Totengebet gesprochen. Anschließend wurde Zeki Müren auf dem historischen Friedhof Bursas neben den ersten osmanischen Herrschern begraben. Eine weitere berühmte Diva in der Türkei ist Bülent Ersöy, der ebenfalls als Mann geboren war.
Die Beispiele sollen einen differenzierten Blick ermöglichen – in der hier nötigen Kürze. Gleichgeschlechtliche Ehe und andere Themen wurden noch nicht angesprochen – es wurde hier vor allem der Blick auf die Vergangenheit gelenkt, um eben zu differenzieren. Schauen wir aber auf das Jetzt und heute, so ermöglicht uns dieser Blick in die Vergangenheit, vielleicht anders über gleichgeschlechtliche Ehe, gleichgeschlechtliche Partnerschaften und LGBTQ+ zu sprechen.
2) Umgang damit im Unterricht
Für mich stellt sich zunächst die Frage, warum die Schüler*innen aus der Lerngruppe sich dem Thema auf die Weise annähern, dass sie sich emphatisch in die Rolle eines homosexuellen Kindes in einer muslimischen Familie versetzen.
Ich sehe darin durchaus auch Formen von Projektionen. Der Islam gilt als besonders streng und unmenschlich.
Auf der anderen Seite spielt aber auch das Thema an sich eine Rolle: wie stehen denn die Schüler*innen selbst dazu? Ist es tatsächlich so, dass in „christlichen“ Familien Homosexualität „kein Problem“ ist? Haben Eltern „christlicher“ Familien keine Angst, dass ihre Kinder homosexuell sein könnten? Finden alle „christlichen“ Kinder Homosexualität normal?
In einem Relikurs der 7. Klasse habe ich eine Schülerin, die sich selbst als transsexuell beschreibt. Sie geht (im Gegensatz zu etlichen männlichen Mitschülern) sehr reflektiert mit dem Thema um. Ich hatte in einem Gespräch mit ihr einmal nachgehört, wie sie in der Familie damit umgeht. Sie sagte, sie gehe nicht so offen damit um, wie bei mir im Unterricht. Das läge aber weniger an den Eltern sondern am 18-jährigen Bruder, der homophob sei. Im weiteren Gespräch erzählte sie, dass der Bruder dies nicht mit der Religion begründet.
Es gibt unter Muslimen*innen also durchaus unterschiedliche Positionen und einen unterschiedlichen Umgang, der auch nicht immer nur religiös konnotiert ist. Und ich denke, dass man bei genauem Hinschauen auch Ähnlichkeiten unabhängig von Religionszugehörigkeiten erkennen kann.
Zu beobachten ist aber dennoch, dass es unter Kindern und Jugendlichen muslimischen Glaubens etwas häufiger Stimmen geben kann, die LGTBQ* kritisch sehen. Auch diese Erfahrung kenne ich aus dem Unterricht.
M.E. geht es dabei aber oftmals weniger um die Anfechtung von Grundrechten homosexueller Menschen, sondern vielmehr um den Umgang mit Sexualität in der Öffentlichkeit, mit sichtbarer sexueller Freizügigkeit und Promiskuität.
An dieser Stelle sollte m.E. auch der Unterricht ansetzen: wie geht man selbst verantwortlich mit Sexualität um? Wie geht eine Gesellschaft verantwortlich mit Sexualität und Liebe um?
(Der weibliche Körper totalverhüllt vs. der weibliche Köper nackter Kommerzialisierung ausgesetzt? Zwei Seiten einer Münze?)
Was für ein Verständnis gibt es von Ehe? Verantwortung? (Bereits zu Zeiten Muhammads gab es Eheverträge und Scheidungen; durchaus auch mit dem Ziel der Frau Sicherheit und Schutz zu gewähren).
Und wie ist es nun, wenn sich zwei Männer oder zwei Frauen lieben?
Andreas Ismail Mohr hat in dem oben erwähnten „Paper in Tabellenform“ einen interessanten Koranvers erwähnt, den ich hier nochmals abschließend zitieren möchte. Vielleicht lassen sich auch Auszüge aus dem Paper im Unterricht verwenden:
„Zu Seinen Zeichen gehört es, dass Er für euch Partner aus euch selber erschuf, damit ihr Ruhe bei ihnen findet, und Er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Darin sind fürwahr Zeichen für Menschen, die nachdenken. Zu Seinen Zeichen gehört auch die Erschaffung von Himmel und Erde sowie die Unterschiedlichkeit eurer Sprachen und Farben. Darin sind fürwahr Zeichen für die Wissenden. (Qur’ān, Sūra 30 ar-Rūm, Verse 21–22.)
Lieber Bernd,
vielen Dank für die sehr ausführliche und umfassende Antwort. Sie gibt mir sehr viel Hintergrundinformation. Ebenso sind deine didaktischen Fragen interessant. Ich hatte mit der Lerngruppe im letzten Jahr zu Homosexualität und Kirche gearbeitet. Auch mit der Intention zu zeigen, wie sehr unterschiedlich mit dieser Thematik in unserer Gesellschaft und in christlichen Familien umgegangen wird. Der Gedanke, dass Thema hinsichtlich Verantwortlichkeit und Sexualität zu erweitern, gefällt mir gut. Die heiligen Texte bieten dafür ja auch Material. Zudem arbeite ich in Klasse 9 gerade zum Buddhismus, auch da geht es um rechte Achtsamkeit. Das könnte man gut verschränken. Also vielen Dank für die vielen Hinweise und Ideen.
herzliche Grüße
Sylvia
Liebe Sylvia,
vielen Dank für deine Frage und die Gelegenheit Stellung zu beziehen. Ich finde es sehr spannend, wie Du die Thematik im Unterricht behandelst.
Liebe Grüße
Bernd Ridwan Bauknecht