Wie geht man damit um, wenn muslimische Mädchen am Sportunterricht nicht teilnehmen wollen oder können?

Darum geht es …
Wie geht man damit um, wenn mus­lim­is­che Mäd­chen am Sportun­ter­richt nicht teil­nehmen wollen oder können?

Zu den Hintergründen

An unserem Gym­na­si­um ler­nen einige Mäd­chen aus Syrien, die am Sportun­ter­richt gemein­sam mit Jun­gen nicht teil­nehmen möcht­en oder die daran nicht teil­nehmen kön­nen, weil ihre Kopfbedeckung/Haarklammer das aus Sicher­heits­grün­den nicht ges­tat­ten, z.B. beim Turnen.
Zum einen schürt das einen gewis­sen Unmut bei anderen Mäd­chen, die vllt. auch nicht gern am Sportun­ter­richt teil­nehmen wür­den. Hier entste­ht ein Gerechtigkeitsproblem.
Zum anderen ist das bedrück­end, weil wir diese Kinder in Kl. 5 und 6 eigentlich als aufgeweckt und bewe­gungs­freudig ken­nen gel­ernt haben. Kaum kom­men sie mit Kopf­tuch in die Schule ver­hal­ten sie sich aber sehr zurückgezogen.

Ein for­maler Aspekt ist der der Bew­er­tung: meist tre­f­fen sich kurz vor Ende des Schul­jahres diese Mäd­chen noch ein­mal mit dem Lehrer und den Eltern auf dem Sport­platz und absolvieren ein paar leich­tath­letis­che Ein­heit­en um so über­haupt zu ein­er Bew­er­tung zu kommen.
Die Eltern dieser Schü­lerin­nen sind sehr darauf bedacht, dass die islamis­chen Regeln einge­hal­ten werden.
Außer für die Eltern scheint dieser Zus­tand aber für alle Seit­en nicht gut zu sein.
Vom Lan­dess­chu­lamt kommt keine klare Anweisung.

Wie hand­habt ihr das an eur­er Schule? Gibt es in NRW amtliche Vorgaben?

Lars Bre­mer

2 Gedanken zu „Wie geht man damit um, wenn muslimische Mädchen am Sportunterricht nicht teilnehmen wollen oder können?“

  1. Zum Umgang:

    Selb­stver­ständlich sind mus­lim­is­che Schü­lerin­nen mit Kopf­tuch nicht vom koe­duka­tiv­en Sportun­ter­richt ent­bun­den. Da gibt es klare rechtliche Vorgaben.
    Dabei dür­fen die Schü­lerin­nen im Sportun­ter­richt ein Kopf­tuch tra­gen. An dieser Stelle kann es bei einzel­nen Übun­gen (z.B. Geräte­tur­nen) zu Kon­flik­ten mit Sicher­heits­bes­tim­mungen kom­men. Der Deutsche-Sportlehrer*innen-Verband (DSLV) rät in solchen Fällen zu indi­vidu­ellen Lösungen:
    http://www.dslv-nrw.de/wp-content/uploads/2014/02/3‑Teilnahme-am-Sportunterricht-mit-Kopftuch.pdf

    Dies erfordert mehr Aufwand: eventuell müssen Mäd­chen mit Kopf­tuch unter Auf­sicht in einem sep­a­rat­en Raum ohne Kopf­tuch üben. Oder je nach Anzahl müssen „Trock­enübun­gen“ der betrof­fe­nen Mäd­chen stat­tfind­en, während die Klasse am Gerät übt. Danach kön­nte ein Wech­sel stat­tfind­en und die Mäd­chen führen die Übung unter indi­vidu­eller Kon­trolle am Gerät durch. Ich werde näch­ste Woche mal eine*n Sportlehrer*in an unser­er Schule befra­gen. Bish­er ist mir das Prob­lem an unser­er Schule noch nicht begegnet. 

    Eventuell kön­nen fes­tanliegende Kap­pen (Art Bademützen) oder Sport-Hid­sch­abs (https://www.adidas.de/sport-hidschab‑2.0/GK2099.html, https://www.nike.com/de/t/pro-hijab-fur-DRCwCn ) in manchen Kon­flik­t­si­t­u­a­tio­nen Abhil­fe schaffen.
    Der Aufwand, dass dann Extraein­heit­en im Bei­sein der Eltern stat­tfind­en, kann aber über­haupt keine prak­tik­able Lösung sein. Es gibt keinen Grund, dass die Eltern anwe­send sein müssen. Auch in Syrien gibt es Sportunterricht. 

    Bei dieser Frage spie­len auch weit­ere Aspek­te eine Rolle:
    1. Manche Schüler*innen nehmen manch­mal die Reli­gion als Vor­wand, um schulis­chen Verpflich­tun­gen nicht nachkom­men zu müssen.
    2. Mit dem Tra­gen des Kopf­tuch­es geht ein moralis­ch­er Zwang und Unfrei­heit einher. 

    Die The­matik, dass Schüler*innen die Reli­gion als Vor­wand nehmen, kenne ich lei­der auch. Es ist allerd­ings die Aus­nahme. Wed­er das Tra­gen eines Hid­sch­abs noch der Fas­ten­monat Ramadan sollen die schulis­che Entwick­lung beein­trächti­gen. Sollte es zu Schwierigkeit­en kom­men, dann gibt es immer the­ol­o­gisch begründ­bare und vertret­bare Möglichkeit­en: zum Beispiel Aus­set­zen des Fas­tens oder Nachfasten.
    Ler­nen und Bil­dung haben in der islamis­chen Tra­di­tion einen hohen und dur­chaus auch religiösen Wert. Auch in Län­dern mit islamis­ch­er Tra­di­tion find­et Sportun­ter­richt statt.
    Aber auch ohne the­ol­o­gis­ches Wis­sen ist in solchen Kon­flik­t­si­t­u­a­tio­nen das päd­a­gogis­che Geschick und der per­sön­liche Kon­takt der Lehrkraft wichtig. Oft­mals liegen die Gründe für indi­vidu­elles Han­deln nicht im Offen­sichtlichen. Und manch­mal müssen wir Päd­a­gogen uns selb­st zurück­nehmen und reflek­tieren, ob wir uns von Zeit zu Zeit nicht auch von eige­nen Vorstel­lun­gen und bes­timmten gesamt­ge­sellschaftlichen Urteilen leit­en lassen. 

    Wom­it wir auch zu Punkt zwei kom­men. Die Gründe, warum Mäd­chen begin­nen, ein Kopf­tuch zu tra­gen, kön­nen sehr vielfältig sein. So habe ich auch Schü­lerin­nen ken­nen­gel­ernt, die zum Beispiel als einzige in der Fam­i­lie sich für das Tra­gen des Hid­sch­abs entsch­ieden haben; also die Mut­ter z.B. kein Kopf­tuch trägt. Oft­mals liegen sehr indi­vidu­elle Gründe und zum Teil auch bewusste Entschei­dun­gen vor. 

    Aber es gibt natür­lich auch famil­iäre Zwänge und gesellschaftlichen Druck. Doch auch hier wird das Tuch von vie­len der Mäd­chen nicht als Sym­bol der Unter­drück­ung son­dern als Schritt auf dem Weg zum Erwach­sen­wer­den gese­hen. Oft­mals sind es ger­ade starke weib­liche Role-Mod­els in der Fam­i­lie, die hier Ein­fluss nehmen.

    Hierzu kann der fol­gende Beitrag auf dig­i­tal-salam im Unter­richt einge­set­zt wer­den. Zum Ein­stieg eignet sich der Film­beitrag „Die Frage: warum ich ein Kopf­tuch trage!“ mit Online-Reporter Michael und dem von mir erstell­ten Unterrichtsmaterialien:
    https://digital-salam.uni-muenster.de/index.php/module/die-frau-im-islam

    (Übri­gens kom­men am Ende des Films auch Frauen zu Wort, die sich dazu entsch­ieden haben, das Kopf­tuch abzunehmen).

    Die Aus­führun­gen sollen nicht Negieren, dass es sehr wohl „überkommene“ und frauen­feindliche Vorstel­lun­gen gibt. Es sollte ein Beitrag zur Dif­feren­zierung sein. Meine Frau, die selb­st kein Kopf­tuch trägt, arbeit­et unter anderem in der JVA mit männlichen Strafge­fan­genen. Tat­säch­lich kann sie auch dort überzeu­gen und ihre the­ol­o­gisch fundierten Posi­tio­nen säen. 

    Hin­ter­grund:
    Bere­its während der Fort­bil­dung hat­ten wir zu der The­matik gear­beit­et und die bei­den rel­e­van­ten Verse uns ange­se­hen (Sure 24:31 und 33:59). Bei Sure 24:31 geht es darum, das andere Geschlecht nicht „anzu­machen“: „die Blicke senken“. Ein Vers davor (24:30) wer­den dazu die Män­ner gle­icher­maßen ermah­nt: „Senkt eure Blicke“. Es wird der Begriff „Himar“ (Schal, Schul­ter­tuch) ver­wen­det. Diesen Himar sollen die Frauen über ihre Brüste ziehen.
    In Sure 33:59 geht es darum, dass frau einen Teil der „Dscha­l­abiyya“ (Über­wurf für Mann und Frau) über sich zieht, damit sie erkan­nt und nicht belästigt wird. Mit diesem Vers argu­men­tieren einige The­olo­gen, dass das Tra­gen eines Kopf­tuch­es somit heute keine Verpflich­tung sei. Die Sit­u­a­tion ist heute anders als damals und die Frau ist ohne Tuch kein­er Bedro­hung aus­ge­set­zt; somit sei die ursprüngliche Schutz­funk­tion des Tuch­es nicht mehr gegeben. 

    Özsoy, Ömer: Zwis­chen Vertei­di­gung und Anpas­sung. Koran­hermeneu­tik im europäis­chen Kon­text. In: Herder Kor­re­spon­denz. Die unbekan­nte Reli­gion. Mus­lime in Deutsch­land. 2 (2009), 35–38.

    Für­linger, Ernst / Kusur, Senad (Hg.), Islam und religiös­er Plu­ral­is­mus. Grund­la­gen ein­er mus­lim­is­chen Reli­gion­s­the­olo­gie. Zürich 2019. 

    Aber natür­lich kann man es auch anders sehen und die Verse anders inter­pretieren. Deshalb fällt das Tra­gen ein­er religiösen Kopf­be­deck­ung zu Recht unter die im GG geschützte Religionsfreiheit.

    Antworten
  2. Vie­len Dank, Bernd, für deine wieder aus­führliche Antwort auf ver­schiede­nen Ebenen.

    Die ver­link­ten „Datteltäter“-Videos auf dig­i­tal-salam gefall­en mir sehr gut. Sie enthal­ten m.M.n. auch gute method­is­che Anre­gun­gen. Ich werde sie im Unter­richt einsetzen!

    Viele Grüße
    Lars

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